Rezension: Sprache – „Seeschnecken“ gibt es nicht

23. April 2011 von Bettina Wurche · Keine Kommentare

Heute bespreche ich weder ein Buch noch eine Ausstellung, sondern ein einziges Wort: “Seashell”.

Seashell = Seeschnecke??

„Seeschnecken“ gibt es nicht. Nicht etwa weil sie ausgestorben sind.
Nein, sie haben niemals existiert.
Das Wort „Seeschnecke“ gibt es in der deutschen Sprache nicht, sondern nur in schlechten wörtlichen Übersetzungen aus dem Englischen. Damit ist es eigentlich auch kein Wort, sondern eher ein Unwort.

Im Englischen bezeichnet der Begriff „Seashell“ das harte Außenskelett der im Meer lebenden Muscheln (Bivalvia), Schnecken (Gastropoda) und Käferschnecken (Polyplacophora) (Quelle).
Der korrekte deutsche Begriff für eine im Meer lebende Muschel ist „Meeresmuschel“, eine im Meer lebende Schnecke heißt dementsprechend „Meeresschnecke“. Eine in einem Binnengewässer lebende Muschel heißt Teich- oder Flussmuschel, eine solche Schnecke wird meistens als Süßwasserschnecke bezeichnet.

Da im Deutschen die Begriffe „die See“ für das Meer und „der See“ für ein größeres Süßgewässer identisch sind, werden durch diese sprachlichen Regelungen Verwechslungen und Irritationen vermieden.
Eine bestechend einleuchtende und exakte Sprachregelung.
Aufgrund der geringen Anzahl der im Süßwasser lebenden Schnecken und Muscheln in Deutschland werden unter „Schnecken“ und „Muscheln“ im Allgemeinen ohnehin automatisch Meeresschnecken verstanden.

Seagull = Seemöwe??

Das Gleiche gilt für das Unwort „Seemöwe“, die wörtliche Übersetzung des englischen „Seagull“. Da es überhaupt keine Binnenmöwen gibt, sondern bestenfalls große Flüsse hinauf gewanderte Meeresvögel, ergibt die Vorsilbe „See-“ in diesem Fall sogar noch viel weniger Sinn. Eine deutsche Möwe heißt einfach nur „Möwe“. Jedenfalls in der zoologisch korrekten Bezeichnung.
Ob das Individuum dann den Namen „Emma“, „Jonathan“ oder wie auch immer trägt, bleibt davon selbstverständlich unberührt.

Kommentar zur Evolution der Unworte „Seeschnecke“ und „Seemöwe“

In letzter Zeit stoße ich zunehmend auf die Unworte „Seeschnecke“ und „Seemöwe“ in Romanen und anderen Büchern. Sie breiten sich geradezu viral aus.
Wie kann es nur angehen, dass sich ein derartig minderwertiger Sprachgebrauch immer weiter einbürgert? Übersetzer sollen aus einer Sprache in eine andere Sprache übersetzen. Dafür sollten sie die entsprechenden Vokabeln in beiden Sprachen kennen oder nachschlagen. Stattdessen wird einfach eine irgendwie richtig erscheinende Wortkreation aus dem Ärmel (oder eher aus der Hose?) in die Tastatur geschüttelt.
Gesamturteil: Schauderhaft.
Und sprachlich absolut inakzeptabel.

Die doppelten Fragezeichen hinter der ersten und zweiten Überschrift dieses Beitrags  sind übrigens mit voller Absicht gesetzt worden und kein Versehen. Sie dürfen als Ausdruck meiner Empörung aufgefasst werden.

Bettina Wurche

Tags: Mollusken · Rezension