“Phantom der Tiefsee: Mysteriöser Wal aufgetaucht“ vermeldet SPON am 05.11.2012.
Und Focus schreibt: „Sensationelle Entdeckung: Forscher enttarnen seltensten Wal der Welt“.
Ein Blick auf das abgebildete Photo sagt mir deutlich mehr: Es geht um die Strandung eines Zweizahnwals.
Das Tier gehört auf jeden Fall zur Gattung „Mesoplodon“, von denen es weltweit 14 Arten gab (und nicht 21).
Die Tiere leben natürlich nicht in der Tiefsee, sondern in der Hochsee. Alle bisher untersuchten Schnabelwale tauchen zwar ähnlich tief wie Pottwale und jagen in tiefen Wasserschichten Fische und Tintenfische. Darum ist auch für Mesoplodon traversii anzunehmen, dass er weit unter 1000 Meter tief taucht. Aber damit ist er natürlich kein Tiefsee-Bewohner, sondern klopft dort höchstens gelegentlich an die Tür.
Dass diese beiden Tiere so schwierig zuzuordnen waren, ist nicht erstaunlich. Zweizahnwale sind erstens wenig bekannt und zweitens sehr schwierig zu bestimmen. Lesen Sie dazu auch den meertext-Beitrag „Geheimnisvolle Schnabelwale – von Entenwalen und Zweizahnwalen“.
Viele Mesoplodon-Arten sehen sich äußerlich teilweise zum Verwechseln ähnlich. Das wichtigste und offensichtlichste Unterscheidungsmerkmal sind die beiden Zähne im Unterkiefer, die nur bei erwachsenen Männchen durchbrechen. Bei Weibchen und Jungtieren bleiben die Zähne im Zahnfleisch verborgen.
Abgesehen von den Zähnen kann die Artzugehörigkeit dieser Wale nur von erfahrenen Spezialisten über kleine Details des Schädels bestimmt werden. Da hier ein Weibchen und Jungtier gestrandet waren, ist es überhaupt nicht verwunderlich, dass die Identifizierung so kompliziert war und die Tiere zunächst als Camperdown-Wal (Mesoplodon grayi bestimmt wurden.
Neben der Schädelanalyse kann die Art auch über eine DNA-Analyse bestimmt werden. Wie es im vorgesehen Fall ja auch geschehen ist.
Die wilde Entdeckungsgeschichte des Bahamonde-Zweizahnwals
Mesoplodon traversii hat eine wilde Entdeckungsgeschichte hinter sich:
1873 fand James Hector auf Pitt Island (Neuseeland) einen Unterkiefer, den er in Wort und Bild dokumentierte. Im darauf folgenden Jahr publizierte John Edward Gray die wissenschaftliche Beschreibung des Kiefers und benannte ihn nach Henry Hammersley Travers: M. traversii. (Nach Hector ist übrigens auch der Schnabelwal Mesoplodon hectori benannt worden, aber das ist eine andere Geschichte).
Um 1950 wurde dann auf White Island (Neuseeland) noch ein Schädel ohne Unterkiefer (= Calvarium) gefunden, der später dem Gingko-Zweizahnwal (M. gingkodens) zugeordnet wurde.
1986 wurde ein beschädigter Schädel ohne Unterkiefer in Chile auf Robinson Crusoe Island angespült und von van Helden und Kollegen als neue Art beschrieben: Mesoplodon bahamondi – Bahamonde’s Zweizahnwal.
In diesem Fall wurde allerdings wenig später klar: Der Schädel gehörte gar nicht zu einer neu entdeckten Art, sondern zu dem schon 1874 beschrieben Tier. Darum war der Name M. bahamondi ungültig und M. traversii gültig. So schreiben es die Regeln der internationalen Nomenklaturkommission vor. Van Helden und Kollegen schrieben also eine Gegendarstellung.
Im Dezember 2010 strandeten zwei Schnabelwale am Strand von Opape, Bay of Plenty, Neuseeland. Sie wurden zunächst als Gray´s Schnabelwal (Mesoplodon grayi) einsortiert.
Erst durch die genetische Analyse aller drei Funde wurde klar, dass sie alle zur gleichen Art gehören. Insgesamt drei Funde sind für eine Walart schon extrem selten, darum titulierten Thompson und Kollegen M. traversii in ihrer jetzt erschienen Publikation als den seltensten Wal der Welt (Thompson, K. et al. 2012: The world’s rarest whale. Current biology, 22(21): R905–R906. doi:10.1016/j.cub.2012.08.055)
Ganz schön viel Aufregung für einen so kleinen, stillen Wal.
Entdeckungen im Museum
Es kommt auch heute noch regelmäßig vor, dass neue Wale (und andere Tiere) entdeckt werden, gerade Museumsammlungen sind dafür prädestiniert.
Die Erklärung ist einfach: Erst in einer Sammlung können Schädel durch exakte Vermessungen und Vergleiche mit anderen Schädeln wissenschaftlich bearbeitet werden bzw. können hier DNA-Analysen durchgeführt werden. Und für die wissenschaftliche Bearbeitung benötigt es einen Anfangsverdacht, ein Forschungsprojekt und die entsprechenden Spezialisten.
Ich hatte schon vor einiger Zeit über eine neue Zwergwalart und eine neue Delphinart berichtet.
Nicht-Zoologen mag es übertrieben erscheinen, so viel Aufwand zu betreiben, um Wale hin- und herzusortieren. Aber diese Artzugehörigkeiten erzählen den Wissenschaftlern wichtige Details über Evolution, Verbreitung und andere intime Details aus dem Leben der Wale.
Zwei Arten nicht sauber auseinander zu halten, ist für einen Zoologen genauso schlimm, wie zusammen geworfene Äpfel und Birnen für einen Obsthändler.
Bettina Wurche
Quellen:
L. van Helden, A. N. Baker, M. L. Dalebout, J. C. Reyes, K. Van Waerebeek, C. S. Baker: Resurrection of Mesoplodon traversii (Gray, 1874), senior synonym of M. bahamondi
Reyes, Van Waerebeek, Cardenas and Yanez, 1995 (Cetacea: Ziphiidae). In: Marine Mammal Science. 18, Nr. 3, Juli 2002, S. 609–621. doi:10.1111/j.1748-7692.2002.tb01062.x.
Perrin, William F.; Wursig, Bernd & Thewissen, J.G.M (eds.) (2002): Encyclopedia of Marine Mammals. Academic Press. ISBN 0-12-551340-2
Reeves, Randall R. & Leatherwood, S. (1994): Dolphins, porpoises and whales: 1994-98 Action plan for the conservation of cetaceans. IUCN, Gland, Switzerland. ISBN 2-8317-0189-9
Thompson, K. et al. 2012: The world’s rarest whale. Current biology, 22(21): R905–R906. doi:10.1016/j.cub.2012.08.055
1 Antwort bis jetzt ↓
1 Geheimnisvolle Schnabelwale – von Entenwalen und Zweizahnwalen // Nov 6, 2012 at 13:54
[...] In neuerer Zeit können diese seltenen Tiere durch die umfassende und hervorragende Forschungsarbeit von Merel Dalebout auch über DNA-Analysen zugeordnet werden: 1991 wurde der Peruanische Schnabelwal (M. peruvianus) beschrieben. 2002 hatte der Perrin-Schnabelwal (M. perrini) sein wissenschaftliches Debut. Und nun macht der der Bahamonde-Schnabelwal (M. traversii) Schlagzeilen…(lesen Sie dazu auch den meertext-Beitrag: „Der Bahamonde-Schnabelwal – ein mysteriöses Phantom aus der Tiefsee?“). [...]